Und jetzt ist alles anders

"Da ist ja der Mann, der jetzt ganz anders aussieht!" ruft er mir entgegen und grinst.
"Du glaubst gar nicht, wie oft ich das bei den letzten Spielen schon gehört habe", antworte ich und grinse zurück. Wir umarmen uns.
"Du siehst gut aus", sagt er.
"Danke", antworte ich und lächele.
"Schön, dich endlich mal wieder zu sehen", sagt er.
"Gleichfalls, mein Lieber", antworte ich und drücke ihn noch mal.
"Ich hatte schon Sorge, dass du dem Fußball den Rücken gekehrt hast", sagt er.
"Keine Sorge", antworte ich. "Ich bin zurück. Ich habe die Auszeit allerdings gebraucht."

Und ganz unberechtigt war seine Sorge nicht. Denn am Morgen war ich noch unentschlossen, ob ich wirklich ins Stadion gehen möchte. Es ist das letzte Heimspiel der vergangenen Saison. Der FC St. Pauli kann an diesem Tag aufsteigen und nach dreizehn Jahren in die erste Bundesliga zurückkehren. Und ich war mir unsicher, ob ich dabei sein möchte. So ein Gedanke wäre vor vier Jahren noch undenkbar gewesen. Es gab Zeiten in meinem Leben, da habe ich meinen Hochzeitstag dem Heimspiel gegen Dynamo Dresden untergeordnet.

Doch heute ist es anders. Das Erlebnis Fußball hat sich für mich verändert. Erst seit Anfang dieses Jahres gehe ich wieder regelmäßig ins Stadion. Das Jahr davor war ich nur ein oder vielleicht zweimal bei einem Heimspiel. Fußball hatte in der Zeit nicht mehr den Stellenwert wie früher in meinem Leben. Ich habe mich mit anderen Dingen auseinandergesetzt. Mit mir und was ich im Leben brauche. Und Fußball gehörte in der Zeit nicht mehr in dem Maße dazu, wie es früher der Fall gewesen ist.

Damals war das Heimspielwochenende für mich die Möglichkeit, aus meinem Alltag auszubrechen. Da habe ich mich frei gefühlt. Über Fußball und die aktive Fanszene des FCSP habe ich mich identifiziert. Dort gehörte ich dazu. Dort war ich unter Gleichgesinnten. Dort konnte ich die Lücken füllen, die in meinem Alltag leer blieben, weil ich mir über meine Bedürfnisse nicht klar war. Das hat über Jahre hinweg für mich großartig funktioniert. Denn selbst wenn sich das Loch in mir mal meldete, war es bis zum nächsten Stadionbesuch nie wirklich lange hin und ich konnte wieder eintauchen in die Welt, die mir Zuflucht bot.

Vor anderthalb Jahren tat sich ganz unvorhergesehen vor mir ein Weg auf, dessen Ende ich nicht einschätzen konnte. Und ich war mir nicht sicher, ob ich diesem Weg folgen wollte. Es stand viel auf dem Spiel damals. Letztlich bin ich dem Weg gefolgt, denn ich wollte mich nicht in zehn oder zwanzig Jahren fragen, wo er mich wohl hingeführt hätte, wenn ich damals doch nur den Mut gehabt hatte, ihn zu gehen. Ich bin zum ersten Mal ausschließlich meinen eigenen Bedürfnissen gefolgt.

Das ging nicht ohne Reibung von statten und einiges ist dabei kaputt gegangen. Bitte sieh mir nach, dass ich hier nicht weiter ins Detail gehe und dich jetzt vielleicht neugierig zurücklasse. Wäre es nur meine Geschichte, würde ich sie mit dir teilen. Doch es ist auch die Geschichte anderer Menschen, die ich bis heute sehr schätze. Sie sollen selbst entscheiden, wer ihre Geschichte erfährt.

Was meinen Teil dieser Geschichte angeht, so kann ich zumindest sagen, dass Fußball damals in den Hintergrund gerückt ist. Es gab in der Zeit so viel Neues zu entdecken. Ich fühlte mich dabei oftmals ein bisschen wie ein Abenteurer, der sich auf neue Welten einlässt, ohne zu wissen, was ihn erwartet. Und diese Neugier und die Dinge, die ich dabei entdeckte, begannen Stück für Stück die Lücken in mir zu füllen, die selbst der Stadionbesuch früher nicht wirklich füllen konnte.

Ich habe begonnen, Klavier zu spielen. Bis heute ist mein Spiel eher schlecht als recht und meine Virtuosität schlicht nicht existent. Und doch sitze ich immer mal wieder eine halbe Stunde an meinem Piano und schaue, was die Finger sich noch gemerkt haben. Ich verlasse Hamburg mittlerweile mindestens einmal im Monat für ein Wochenende und schnüre meine Wanderschuhe, meist im Harz. Diese zwei Tage in der Natur, vorzugsweise ohne die Begegnung mit fremden Menschen, sind ein echter Segen geworden. Und jeden Mittwochabend zieht's mich den Stall zum Reiten. Es ist unglaublich, wie schnell es in meinem Kopf ruhig wird, wenn ich mich mit den Pferden dort beschäftige. Besonders wenn Hubert meine Hand abschlabbert oder Meischke die Unterlippe beim Kraulen der Mähne genießerisch nach vorne schiebt.

Du siehst, vieles hat sich verändert seit den Tagen, in denen es für mich unvorstellbar war, ein Heimspiel zu verpassen. Und es verändert sich immer noch. Ich verändere mich. Ich schaue viel mehr darauf, was ich gerade brauche und was mir eher Energie raubt. Da kann es schon schein, dass ich lieber im Harz entlang der Ilsefälle wandere als mir ein Heimspiel des FC St. Pauli anzuschauen. Wobei es auch Spiele gibt, bei denen ich unbedingt dabei sein möchte, zum Beispiel wenn der FCSP zuhause gegen Hansa Rostock spielt. Das ist immer noch ein Muss!

Es haben sich damit allerdings auch viele zwischenmenschliche Verbindungen in meinem Leben verändert. Denn mein Fokus hat sich verschoben. Damit sind Dinge, die ich mit anderen früher gemeinsam zelebriert habe, für mich nicht mehr so wichtig: Trinken zum Beispiel. Bier gehört für mich zwar weiterhin zum Fußballerlebnis dazu, nur darf es jetzt gern alkoholfrei sein. Ich muss aus nichts mehr ausbrechen und unbedingt mal über die Stränge schlagen.

Und es gibt Tage, da kann ich mit Oberflächlichkeiten wenig anfangen. Da reicht es mir dann nicht, wenn die aufregendsten Fußballgeschichten der letzten dreizehn Jahre mal wieder in allen braun-weißen Schattierungen ausgeschmückt werden. Da würde ich mich gern über tiefergehende Dinge unterhalten. Unter die Oberfläche schauen. Ich kann aber gut verstehen, dass ein Heimspiel für viele der Ort ist, an dem sie genau das nicht tun möchten. Es ging mir ja selbst jahrelang so.

Und so fühle ich mich nicht mehr komplett zugehörig zu diesem Mikrokosmos. Das ist für mich eine komische Situation, denn Zugehörigkeit ist wirklich etwas, wonach ich jahrzehntelang gestrebt habe. Und dieser Wunsch ist ja nicht komplett weg. Ich möchte ihn mir nur nicht mehr um jeden Preis erfüllen. Doch die frühere Prägung wirkt auch heute noch.

Deshalb war ich am Morgen des letzten Heimspiels vor zwei Wochen auch echt zwiegespalten, ob ich hingehen sollte. Ich hatte nicht das Gefühl, noch dazuzugehören, nachdem ich mich entschieden hatte, fast ein Jahr nicht ins Stadion zu gehen. Ich war unsicher, hatte keine Idee, wie es für mich werden würde. Ich hatte die Sorge, zum Außenseiter geworden zu sein. Zum geduldeten Gast. Dieser Gedanke machte mir beim Frühstück echt zu schaffen.

Doch letztlich siegte die Neugier. Und wieder der Drang, mich nicht hinterher fragen zu müssen, wie es wohl gewesen wäre, einen Aufstieg wirklich mal im Stadion zu erleben. Das Gefühl kannte ich bis dahin nämlich nicht, obwohl ich dem FCSP seit nun fast dreißig Jahren die Treue halte.

Und ich bin erneut dankbar, den Mut aufgebracht zu haben, mich der neuen Situation zu stellen. Ich habe mich verändert. Die Menschen neben mir im Stadion haben sich verändert. Und das ist okay. Es wäre wohl sogar eher befremdlich, wenn sich in anderthalb Jahren nichts verändert hätte. Und wie ein Freund von mir vor einem halben Jahr schon sagte: "Manchmal ist es doch auch ganz schön, in Mitten von lieben Menschen, die du meist nur beim Fußball triffst, einfach oberflächlich bleiben zu können und trotzdem herzlich miteinander zu sein." Recht hat er!

Und als der FCSP kurz vor Schluss mit 3:1 führte und der Aufstieg damit sicher war, holte ich mein Smartphone aus der Tasche, um oben von meinem Stehplatz den sich anbahnenden Platzsturm zu filmen. Und als wenig später der Schlusspfiff ertönte und tausende Menschen überglücklich aufs Spielfeld liefen, liefen bei mir hemmungslos die Tränen. Und die wollte ich auf gar keinen Fall verstecken. Jeder sollte sie sehnen, meine Emotionen. So nahm ich meine Sonnenbrille ab und drehte mich um. Und einige Menschen um mich herum zeigten auf mich und riefen mir zu: "So! Genaus so fühle ich mich auch gerade!" Und fingen selbst an zu weinen.

Da habe ich begriffen, dass mich noch so Vieles mit den Menschen hier verbindet und ich weiterhin dazu gehöre. Es ist nur etwas anders geworden.

Sven

1976er Baujahr mit leichten Gebrauchsspuren.

Ich möchte Impulse setzen, damit Menschen entspannter sein können - vor allem mit sich selbst. Ich habe selbst erlebt, wie verwunden der Weg dahin sein kann. Und wie schön das Gefühl ist, dort anzukommen.

Ansonsten produziere ich Videos, gehe Wandern, Reiten, zum FC St. Pauli und regelmäßig zur Kosmetik.

https://svenkalcher.de
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Wenn das innere Kind keine Ruhe gibt