Urlaub mit zuviel Gepäck

"Auf einer Skala von eins bis zehn", sie schaut mich an, "wie voll ist dein Rucksack gerade?"
"Wie meinst du das?" frage ich.
"Was hast du alles in deinem mentalen Rucksack, dass eigentlich nicht hier in diese Situation gehört?"
Ich starre vor mich hin, überlege.
"Vielleicht eine sieben", antworte ich schließlich etwas zögernd.
"Bist du sicher?" fragt sie. "Wenn du so lange überlegst, ist es vermutlich sogar mehr."
"Hm", antworte ich. "Und ich habe schon von sechs auf sieben erhöht."
"Bei mir ist es eine neun", sagt sie und schaut mich an.

Da sitze ich nun spät am ersten richtigen Urlaubsabend im wunderbaren Garden Studio in den westlichen Highlands und bin nicht entspannt. Die Wochen vor diesem Urlaub waren von Müdigkeit geprägt. Vor allem von mentaler Müdigkeit. Ich fühlte mich seit langer Zeit wieder getrieben. Im Job hatte ich das Gefühl, meine Sichtweise auf Dinge ständig verteidigen zu müssen. Und meinen eigenen Ansprüchen an 'Leichte Gebrauchsspuren' konnte ich irgendwie auch nicht genügen. So habe ich es zumindest empfunden.

Mein Gott, habe ich den Urlaub herbeigesehnt, um endlich zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Erst vier Tage in den westlichen Highlands und dann weitere vier Tage auf der Isle of Skye und noch anderthalb in Stirling. Ganz entspannt die Natur genießen, vielleicht das eine oder andere Castle besuchen und gemütlich Essen gehen. Zeit zum Durchatmen.

Um drei Uhr morgens aufzustehen, um dann pünktlich um kurz nach sechs im Flieger zu sitzen, war nicht ganz ohne. Doch die Aussicht, schon am frühen Nachmittag in den Highlands anzukommen und abends entspannt den ersten Single Malt in der Unterkunft genießen zu können, entschädigte für die verklebten Augen im Flieger.

Doch jedesmal, wenn irgendwo ein Mensch Pläne macht, fällt im Hintergrund das Schicksal lachend vom Stuhl. Unser Abflug verzögerte sich um eine halbe Stunde und so verpassten wir den Anschluss in Amsterdam. Nach weiteren sechzehn Stunden und einem Umweg über Paris kamen wir spätabends in Edinburgh an und tranken unseren Whisky an der Bar des spontan gebuchten Hotels anstatt in der gemütlichen Unterkunft. In diese ging es erst nächsten Morgen weiter, also mit einem ganzen Tag Verspätung und viel zu wenig Schlaf. So viel zu Plänen und Entspannung.

Neuer Tag, neues Glück. Einfach den vorherigen Tag ausblenden. Ändern konnte ihn ja ohnehin nicht. Und meine Entspannung wollte ich mir dadurch auf gar keinen Fall nehmen lassen. Immerhin hatte ich mich ja seit Wochen darauf gefreut. Und so packte ich ganz unbemerkt die nächsten Sachen in meinem mentalen und emotionalen Rucksack: Zum einen den zur Seite geschobenen Frust und zum anderen die Aufgabe, mich zu entspannen und den Urlaub gefälligst zu genießen. Und das Schicksal schaute grinsend vom Boden zu mir hoch. Es machte sich gerade erst warm.

Es gab eine Sache in diesem Urlaub, auf die ich mich schon seit Monaten mehr als auf alles andere gefreut hatte: Die Erfahrung, den Ring of Steall zu wandern, einen der schönsten Gebirgswanderwege im Vereinigten Königreich. Eine buchstäbliche Gratwanderung über vier Munros auf etwa eintausend Metern Höhe. Ich war total aufgeregt und voller Vorfreude. Doch kurz vorm Einschlafen meldete sich die Stimme der Vernunft vom Kopfkissen neben mir: “Ich möchte den Ring of Steall nicht wandern morgen. Ich traue mir das nicht zu.”
Das kam unvorbereitet. Die nächste Sache, auf die ich mich gefreut hatte und die nun nicht passieren würde. Und ich konnte wieder nichts machen. Was hätte ich sagen sollen?
”Du schaffst das schon. Wir hatten das doch abgemacht. Reiß dich mal zusammen.”?
Nein. Wenn du solche Dinge gemeinsam angehst, machst du auch nur das, was sich alle Beteiligten zutrauen. Und so saß ich in der Zwickmühle. Ich war wütend, dass mir jemand wegnimmt, auf was ich mich seit Monaten gefreut hatte. Und gleichzeitig verstieß diese Wut hart gegen mein Wertekonstrukt. Und ich konnte nichts dagegen tun. Das fand ich unfair. Und so sagte ich zwar, dass es okay sei, stand aber ein paar Minuten später wortlos auf und verließ das Schlafzimmer. Nach einigen Minuten folgte sie mir und so kam es dann zur eingangs wiedergegebenen Unterhaltung nachts im Wohnzimmer von Ard Daraich. So ist das, wenn du nicht nur dein Reisegepäck dabei hast, sondern auch zusätzlich noch unbemerkt einen ganzen Rucksack voll angestauter Emotionen im Urlaub mit dir rumschleppst. Nur, dass mir das in der Nacht noch nicht bewusst war.

Wir unterhielten uns noch etwa eine Stunde auf dem Sofa. Schauten in unsere mentalen und emotionalen Rucksäcke. Machten eine oberflächliche Inventur. Doch ich war müde. Und sie war müde. Müde vom ersten Tag. Müde von der Enttäuschung, den Ring of Steall nicht zu wandern. Müde davon, sich auch im Urlaub mit solchen Themen auseinander setzten zu müssen. Und so schnürten wir unsere Rucksäcke wieder zu und warfen sie erstmal in die Ecke. Wir hatten ja kurz reingeschaut, damit müsste ja alles erledigt sein. Hätten wir sie mal besser gleich ausgepackt und uns den Inhalt genauer angesehen. So etwas ähnliches dachte sich wohl auch das Schicksal und grinste im Scheidersitz neben seinem Stuhl sitzend wissend zu mir hoch.

Denn irgendwie fand auch in den nächsten Tagen jede Sache, die nicht lief, wie ich es mir vorgestellt hatte, unbemerkt ihren Weg in meinem emotionalen Rucksack: Wir wanderten den Aufstieg zum Sgürr Dhomhnuill nicht zu Ende und kehrten auf fünfhundert Höhenmetern um. Dabei hätte ich gern einfach mal einen Gipfel erreicht. Auf dem Weg auf die Isle of Skye standen wir über zweieinhalb Stunden in einem Stau auf der einzigen Straße zu unserem Ziel. Ich war so angespannt, dass ich selbst die harmlose Frage am Dunvegan Castle, ob ich etwas aus meiner Tasche im Auto lassen wolle, als bevormundend empfand. Ich konnte ja wohl noch selbst entscheiden, was ich mit mir rumschleppen möchte und was nicht, oder?!
Mein emotionales Gepäck drückte dabei bereits so sehr auf meine Schultern, dass ich gar nicht richtig anerkennen konnte, welche herausfordernden Wegabschnitte wir gemeistert hatten und durch welches Gelände wir immerhin bis auf fünfhundert Meter Höhe gewandert waren. Ich konnte die atemberaubende Landschaft auf der Fahrt zur zweiten Unterkunft gar nicht recht genießen. Und die lieb gemeinte Absicht hinter der Frage zum Inhalt meiner Tasche habe ich überhaupt nicht als solche wahrgenommen. Der Rucksack drückte und scheuerte und ich war an der Grenze dessen, was ich noch tragen konnte. Und so schlich sich das Schicksal mit uns ins Old School Restaurant in Dunvegan und schrieb unbemerkt weiter an der Packliste.

In diesem großartigen Ambiente in einem alten Schulgebäude nach Haggis und Muscheln als Vorspeise passierte es dann. Mit spitzen Fingern legte das Schicksal grinsend die letzte Kleinigkeit in meinen Rucksack. Und ich konnte nicht mehr. Keine Chance, mich noch irgendwie zu regulieren. Ich riss den Rucksack auf und schmiss völlig unvorhersehbar und in einer der Situation völlig unangemessenen Art und Weise meinen ganzen Frust mitten auf den Tisch zwischen Slow Cooked Beef Cheek, Fish Pie und Sticky Toffee Pudding.

Was war passiert? Wir genossen das Essen, versuchten, die Ereignisse und Anspannung der letzten Tage hinter uns zu lassen. Ich erzählte gerade etwas und mitten im Satz blickte sie auf etwas hinter mir. Etwas, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und das sie nicht ausblenden konnte. Das war nicht neu, das kannte ich schon. Normalerweise warte ich einfach, bis sie wieder bei mir ist mit ihrer Aufmerksamkeit und erzähle dann weiter. Doch das ging an diesem Abend nicht. Ich fühlte mich so unfair behandelt und nicht wertgeschätzt, dass ich völlig überreagierte. Ich wollte in diesem Moment, dass sie die gleiche Belastung spürte, wie ich. Dass ich mich nicht schon wieder anstrengen musste, damit wir entspannt dort sitzen konnten. Dass ich mir nicht schon wieder die Erfüllung meiner Bedürfnisse erkämpfen musste. Das fand ich einfach nicht fair.

Über das Wort 'wieder' in meinem Frust hätte ich stolpern können. Wieso wieder? Wie lange sind denn meine Bedürfnisse gerade nicht erfüllt? Und welche Bedürfnisse sind das überhaupt? Das wären vermutlich die richtigen Fragen schon am allerersten Abend gewesen. Und es wären auf jeden Fall die richtigen Fragen beim Abendessen im Old School Restaurant gewesen. Doch ich wollte nicht schon wieder Kraft aufwenden und mich hier im Urlaub mit mir auseinandersetzen. Und so habe ich alles, was gerade aus meinem Rucksack geflogen war, wieder hektisch zurück gestopft, verschnürt und wollte es einfach nur ignorieren. Als ob es davon weggehen würde. Hätte ich mir diese Fragen doch einfach mal gestellt. Das Schicksal nickt zustimmend in seiner Ecke.

Doch ich hatte die Fragen nicht gestellt. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass sie sich aufdrängten. Und so quoll, zurück in unserer Unterkunft, das das ganze emotionale Gepäck wieder aus dem Rucksack und lag jetzt wild durcheinander geworfen zwischen uns. Wir schauten drauf. Und wir stellten fest, dass nicht alles aus meinem Rucksack kam. Auch ihr Rucksack war unbemerkt so voll geworden, dass der Inhalt einfach raus fiel. Wir waren ratlos. Was machen wir jetzt mit all den Dingen, die wir beide unbewusst mit in den Urlaub genommen hatten? Sie füllten die siebzehn Quadratmeter der Hideaway Cabin jetzt zusätzlich zu unseren Wanderklamotten. Das machte den Raum ganz schön eng - für uns beide. Fluchtgedanken kamen auf.

Zuhause hätte sich jetzt jeder etwas Zeit für sich gegönnt. Das ging hier nicht so einfach. Das fühlte sich richtig doof an. Jeder von uns sehnte sich nach der Möglichkeit, sich für eine Weile zurückzuziehen. Abstand entstand zwischen uns und wir versuchten irgendwie, auf keinen Fall weiteren Ballast auf den Haufen der ungeklärten Emotionen zu werfen. Am Ende unternahmen wir am folgenden Tag nichts und kramten ein Spiel raus, um irgendwie gefahrlos miteinander umgehen zu können. Dabei beobachteten wir uns gegenseitig. Beobachteten auch uns selbst. Wir hörten in uns hinein. Es war surreal, einen Urlaubstag in so einer angespannten Atmosphäre zu verbringen. Wir haben es ausgehalten, haben die Dinge nicht erneut in unsere Rucksäcke gestopft und verschnürt. Wir haben sie betrachtet. Jeder für sich, während wir nebenbei gemeinsam mit Justus, Peter und Bob versuchten, das Geheimnis der Statue zu lüften.

Abends gingen wir ins Bett. Wir wollten nicht noch einmal reden. Zu groß war die Erschöpfung und vielleicht auch die Sorge, was dabei herauskommen würde. Am nächsten Morgen setzte ich mich mit meiner Tasse Kaffee nach draußen auf die kleine Veranda unserer Cabin. Ich fühlte mich ausgelaugt. Ich war immer noch ratlos und hatte nicht wirklich eine Idee, wie es jetzt weitergehen sollte. Wie es weitergehen könnte. Nicht nur, was den Urlaub betraf. Was war da eigentlich passiert vorgestern Abend? Sie trat zu mir auf die Veranda mit ihrem Kaffee in der Hand. Wir schwiegen einen Moment, waren beide ratlos und fanden die Situation gerade nicht cool. Und dann haben wir geredet. Ausgeruht. Jeder mit einem Kaffee. Und nicht mitten in der Nacht nach anstrengenden zwei Reisetagen. Wir nahmen uns Zeit, zuzuhören. Wir fanden den Mut, klar zu benennen, was in unseren Rucksäcken war und was sie so schwer machte.

Was ich mir in den sechs Tagen zuvor nicht erlaubt hatte, war, meinen emotionalen Rucksack einmal auszupacken. Einmal zu sagen, ich finde das doof, wie es gerade läuft. Und dann vor allem hinzuschauen, was ich daran doof finde und es auszusprechen. Ich hatte Angst davor, dass es den Urlaub ruinieren könnte. Das es vielleicht sogar mehr ruinieren könnte. Es bedurfte viel Mut, sich ehrlich in die Augen zu schauen und zu sagen, was gerade nicht passt, was jeder für sich selbst und vom anderen braucht. Denn was, wenn es keinen Ausweg gäbe? Doch vom Schweigen und Verschnüren geht es nicht weg. Auch nicht im Urlaub.

Am Ende war das Gegenteil der Fall. Es bedurfte keines Auswegs. Nachdem wir über den Ballast in unserem Gepäck offen sprechen konnten und verstanden haben, was jeder für sich und der jeweils andere mit sich trägt und braucht, fühlten wir uns erleichtert. Es brauchte gar keine Lösung hier und jetzt. Es brauchte nur Verständnis. Verständnis für die eigene Gemütslage und die des jeweils anderen. Dieses Gespräch und der Tag der Ruhe vorher führten endlich zu der Entspannung, die ich mir schon sechs Tage zuvor so sehnlich gewünscht hatte. Unsere emotionalen Rucksäcke standen nun in der Ecke, nicht leer, aber aufgeräumt. Sie drückten nicht mehr auf die Schultern. Wir waren endlich entspannt und konnten die restliche Zeit genießen.

Auf dem Rückweg von der Isle of Skye nach Stirling versuchten wir uns mit dem Carn Chluasaid an unserem nächsten Munro - und kehrten neunzig Meter unterhalb seines Gipfels um - beeindruckt von der Umgebung und stolz auf die erreichten achthundertsiebzig Höhenmeter. Natürlich verpassten wir auf dem Rückflug wieder den Anschluss in Amsterdam. Und so landeten wir elf Stunden später und nach einer viel zu kurzen Nacht im diesmal von der Fluggesellschaft organisierten Vier-Sterne-Hotel total übermüdet erst am nächsten Tag wieder in Hamburg. Und wieder liegt das Schicksal lachend auf dem Boden. Doch irgendwie können wir diesmal mitlachen.

Und so habe ich aus diesem Urlaub neben einer Flasche Talisker Single Malt, Orange & Whisky Marmelade, Seifen und einer Keramiktasse vor allem die Erfahrung mitgebracht, dass es sich lohnt, sofort zu schauen, wenn der emotionale Rucksack unbequem zu tragen wird. Meist müssen nur ein paar Dinge zurecht gerückt oder neu gepackt werden, damit es nicht mehr drückt. Und das wird nicht von alleine geschehen. Nicht im Urlaub. Und auch nicht im Alltag.

Sven

1976er Baujahr mit leichten Gebrauchsspuren.

Ich möchte Impulse setzen, damit Menschen entspannter sein können - vor allem mit sich selbst. Ich habe selbst erlebt, wie verwunden der Weg dahin sein kann. Und wie schön das Gefühl ist, dort anzukommen.

Ansonsten produziere ich Videos, gehe Wandern, Reiten, zum FC St. Pauli und regelmäßig zur Kosmetik.

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Und jetzt ist alles anders