Was ist mir im Leben wichtig?
Ich sitze auf dem Sofa. Der Kaffee duftet aus der Tasse in meinen Händen. Ich starre aus dem Fenster.
„Ich merke gerade, wie ruhig ich bin“, sage ich.
„Wie meinst du das?“ fragt sie.
„Naja“, antworte ich, „mich sorgt gerade nichts. Alles fühlt sich natürlich und richtig an.“
„Und das war nicht immer so?“ fragt sie.
„Nein“, antworte ich. „Früher hatte ich irgendwie immer Angst, dass es nicht von Dauer sein könnte. Dass ich es nicht verdient habe. Ich habe mich nicht getraut, meine eigenen Bedürfnisse zu formulieren. Ich hätte damals nicht mal sagen können, was meine Bedürfnisse eigentlich sind."
„Was sind denn heute deine Bedürfnisse?“ fragt sie.
„Das kommt auf die Situation an“, antworte ich.
„Nein“, sagt sie, „das meine ich nicht. Was wünschst du dir generell? Was ist dir im Leben wichtig?“
Ich überlege.
„So habe ich mich das noch nicht gefragt“, sage ich.
„Hast du Lust, das mal herauszufinden?“ fragt sie.
Na klar hatte ich Lust. Ich meine, natürlich hatte ich mich schon das eine oder andere Mal gefragt, was ich im Leben erreichen möchte. Darauf hatte ich auch immer eine Antwort gefunden. Kurz zusammengefasst und stark vereinfacht kann ich sagen, mit Zwanzig wollte ich Geld und Karriere, mit Dreißig eine Familie und ein Haus und ab Mitte Vierzig möchte ich Zufriedenheit. Doch hatte ich mir noch nie wirklich darüber Gedanken gemacht, welche Bedürfnisse eigentlich dahinter stecken. Im Grunde war mir nicht einmal klar, was eigentlich ein Bedürfnis ist. Ich war neugierig, das herauszufinden.
Also ließ ich mich auf eine kleine Übung ein. Aus vierzehn Paaren wählte ich erstmal jeweils das Bedürfnis aus, das mehr mit mir resonierte. Bei einigen war das total einfach. Zum Beispiel lag mir Sammeln schon immer mehr als Ordnung. Dafür brauchst du nur mal in meine Wohnung zu schauen. Bei anderen Paaren war es weniger offensichtlich für mich. Ist mir zum Beispiel Freude wichtiger oder doch eher der Idealismus? Das war schon kniffeliger.
Am Ende blieben vierzehn Bedürfnisse übrig, von denen ich nun sieben wegstreichen sollte. Sofort einen Begriff zu streichen, war mir nicht möglich. Das war ganz spannend. Was, wenn ich unter den anderen einen finde, den ich eher streichen würde? Wie kann ich das dann rückgängig machen? Das hat mich kurzzeitig überfordert. Ich hab’s dann einfach umgedreht und erstmal die Begriffe unterstrichen, die ich auf gar keinen Fall streichen würde. Die, bei denen ich gar nicht darüber nachdenken musste, ob ich sie streichen könnte. Lebenskraft zum Beispiel. So ging es. So konnte ich mich von sieben weiteren Bedürfnissen trennen.
Die anderen sieben durfte ich nun gegeneinander abwägen. Zunächst den erste Begriff gegen den zweiten. Den gewichtigeren dann gegen den dritten Begriff und so weiter bis zum Ende. Beim ersten Durchgang blieb Lebenskraft, also die Gesundheit des Körpers, übrig. Dieses Bedürfnis wird als so elementar angesehen, dass es bei dieser Übung zu einem weiteren Durchgang berechtigt, um am Ende auf die drei am stärksten ausgeprägten weiteren Bedürfnisse zu kommen. Neben der Lebenskraft blieben bei mir am Ende Ruhe, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit übrig.
Und auch, wenn Bedürfnisse wie Familie, Freiheit oder Beziehungen es nicht unter die ersten drei geschafft haben, weiß ich, dass sie mir wichtig sind. Allerdings nicht um jeden Preis. Und mir das mit dieser Übung vor Augen zu führen, empfand ich als unglaublich bereichernd. Vor allem, dass es mir möglich war, mich zu entscheiden. Und dass diese Entscheidung keinen Stress bei mir ausgelöst hat. Das wäre vor einem oder zwei Jahren noch anders gewesen. Da hätte ich Angst davor gehabt, mich falsch zu entscheiden.
Falsch? Wie kann es falsch sein, sich für sein eigenes Bedürfnis zu entscheiden? Tja, das war einer meiner Special Effects. Zugehörigkeit war für mich ein enormer Treiber in der Vergangenheit. Ich war so getrieben davon, den vermeintlichen Erwartungen anderer zu entsprechen, dass ich unterbewusst versuchte, meine Bedürfnisse diesen Erwartungen unterzuordnen, um ja nicht anzuecken und mich damit der Gefahr auszusetzen, nicht akzeptiert zu werden.
Hätte ich in dieser Zeit diese Übung gemacht und hätte die Ruhe dem Spaß vorgezogen und jemand in meinem engeren Umfeld hätte mich gefragt, ob ich mir da sicher sei, weil ich doch auch gern und oft auf Konzerte ginge, ich hätte vermutlich meine Meinung geändert. Denn wenn dieser Mensch mich so wahrnimmt, dann muss da ja was dran sein und ich mache mir bestimmt nur etwas vor.
Heute ist das zum Glück anders. Heute ist mir bewusst, dass die Wahrnehmung anderer Menschen von mir durch die Lebensrealität dieser Menschen geprägt ist und von meiner Wahrheit abweichen kann. Geht dieser Mensch zum Beispiel gern auf Konzerte, weil ihr oder ihm Spaß wichtiger ist als Ruhe, dann schließt sie oder er vermutlich daraus, dass es bei mir auch so sein muss. Schließlich sehen wir uns immer mal wieder auf Konzerten. Für diesen Mensch ist es logisch und damit wahr, dass auch mir Spaß wichtiger ist als Ruhe.
Damit muss es für mich aber nicht wahr sein. Mir kann sehr wohl die Ruhe wichtiger sein, weshalb ich vermutlich nicht jedes Wochenende auf einem Konzert bin, sondern nur, wenn mich die Musik begeistert. Ich habe offensichtlich nur einen ähnlichen Musikgeschmack wie dieser Mensch. Ich darf also meine eigene Wahrheit haben. Und ich muss sie nicht erklären. Sie darf einfach sein. Das habe ich früher nicht immer so gesehen.
Und was haben meine Bedürfnisse jetzt damit zu tun, dass es mir gerade gut geht? Erstmal ganz einfach: Sie werden gerade erfüllt. Spannend finde ich, dass ich, weil ich mir bisher ja keine Gedanken zu meinen Bedürfnissen gemacht habe, da angekommen bin, ohne es bewusst gesteuert zu haben. Rückwirkend betrachtet, habe ich vermutlich zuerst meine Unabhängigkeit stärken können. Vor allem meine frühere Abhängigkeit von der Meinung und der Anerkennung Anderer konnte ich in den letzten zwei Jahren deutlich reduzieren. Dass damit auch eine gewisse Ruhe kommt, ist jetzt nicht weiter überraschend. Ich fühle mich ja nicht mehr getrieben. Dass mein Bedürfnis nach Gerechtigkeit gerade erfüllt wird, kommt ebenfalls aus dieser Richtung. Durch meine Emanzipation von der Akzeptanz anderer Menschen, kann ich besser für das eintreten, was mir wichtig ist. Gleichzeitig kann ich auch Menschen oder Umgebungen leichter hinter mir lassen, die mein Wertekonstrukt stören. Dadurch wird die Welt zwar nicht gerechter, aber mein gewähltes Umfeld. Und das ist doch schon mal was.
Zukünftig wird mir das Wissen um meine stark ausgeprägten Bedürfnisse vor allem dann helfen, wenn es mir mal nicht so gut geht. Dann kann ich schauen, welche meiner Bedürfnisse möglicherweise gerade nicht mehr ausreichend befriedigt werden und nach Strategien suchen, das zu ändern. Und wenn ich feststelle, dass die bisher für mich stark ausgeprägten Bedürfnisses zwar befriedigt werden, ich mich aber dennoch nicht wohl fühle, dann lohnt es sich, diese Übung zu wiederholen. Dann haben sich vielleicht meine Bedürfnisse verschoben. Vermutlich ist meine Wahrheit dann eine andere. Und auch die darf dann einfach sein!
Ich bin gespannt, wie das Wissen über meine Bedürfnisse mir zukünftig dabei helfen wird, besser zu verstehen, was gerade bei mir wirkt. Jetzt kann ich bewusst hinschauen, ob sie noch ausreichend erfüllt werden. Denn wenn ich mich dauerhaft nicht wohl fühle oder unzufrieden bin, ist es sehr wahrscheinlich, dass mindestens eines meiner Bedürfnisse gerade zu kurz kommt. Und da kann ich dann bewusst ansetzen.