Routinen - gute Diener, schlechte Herren
“Was glaubst du”, frage ich und zeige dabei auf die Scheibe Schinken auf meinem Brötchen, “wieviel Gramm hat so eine Scheibe?”
”Keine Ahnung”, antwortet sie.
”Das find ich jetzt doof”, sage ich und starre genervt auf mein iPhone.
”Track doch einfach eine Scheibe”, sagt sie.
”Hier gibt’s aber nur Gramm!” maule ich vor mich hin.
”Wie viele Scheiben sind denn in der Packung?” fragt sie.
”Weiß ich nicht!” schnappe ich zurück. “Warte, eins, zwei, drei …”
”Kannst du nicht erst essen und dann das Frühstück tracken?” fragt sie jetzt auch genervt.
Ich antworte nicht. Ich fühle mich ertappt. Das nervt mich noch mehr. Deshalb antworte ich nicht.
”Ich meine das ernst”, sagt sie und blickt mich an. “Noch bevor du den ersten Bissen gegessen hast, hast du das Telefon in der Hand und erfasst diese Dusselspunkte. Ich finde das ungemütlich.”
”Ich wollte nur gucken, ob ich den Schinken auch wirklich in der App finde”, verteidige ich mich.
”Und was passiert, wenn er da nicht drin ist und du ihn trotzdem isst?” fragt sie.
Ich schweige.
Sie schaut mich an, zieht die Augenbraue hoch, wartet auf meine Antwort.
Ich schäme mich. “Nichts”, murmele ich.
”Aha!” sagt sie.
”Ich weiß auch nicht warum”, versuche ich ihr zu erklären, “aber wenn der Schinken in der App ist, muss ich auch genau diesen Schinken erfassen. Keinen anderen. Das wäre falsch.”
”Was würde denn passieren, wenn du einen anderen Schinken in der App trackst?” fragt sie.
Ich kenne die Antwort. Ich will sie nicht aussprechen. Ich schäme mich, weil mal wieder einer meiner Special Effects durchgeschlagen ist: Routinen müssen ganz genau eingehalten werden!
Diese Unterhaltung fand weitestgehend genauso heute morgen zum Ende meiner zehnten WeightWatchers-Woche statt. Und es ist tatsächlich so: Bevor ich anfange zu essen, möchte ich erst wissen, ob das, was ich esse, so in der App gespeichert ist. Mir geht es dabei nicht darum, vorher zu wissen, wieviele Punkte meine Mahlzeit hat und ob sie damit noch in mein Budget passt. Nein, für mich ist es wichtig zu wissen, ob genau das Lebensmittel, dass ich auf dem Teller habe, überhaupt in der App gespeichert ist. Wenn nicht, ist das nicht schlimm. Dann wähle ich einfach ein ähnliches aus. Aber wenn es gespeichert ist, muss es auch genau dieses Lebensmittel sein. Denn es ist ja möglich, es richtig zu machen. Also muss ich es auch richtig machen. Und das am besten gleich, dann ist diese Frage nämlich vom Tisch. Das hat schon fast zwanghafte Züge. Es geht auf einmal nicht mehr um das eigentliche Ergebnis, sondern um die absolut korrekte Einhaltung des Plans. Die Routine engt mich ein, überschattet die Erfolge und nimmt mir jede Leichtigkeit.
Und das passiert mir immer wieder. Am Anfang brauche ich Routinen, um meinen inneren Schweinehund zu überwinden. Ich brauche einen Plan, einen Ablauf, eine Methode, um eine neue Gewohnheit zu entwickeln. Ansonsten bin ich einfach nicht diszipliniert genug, um durchzuhalten. So auch bei gesunder Ernährung. Ich habe immer mal angefangen, wieder einen Abend selbst zu kochen. Doch dann war es viel bequemer, einfach etwas aus der Kantine zu essen oder abends beim Pizzadienst zu bestellen. Und weil’s auf der Couch gerade so gemütlich ist, kommt noch eine Tüte Chips dazu. Und bei mir gibt es Chipstüten sowieso nur ein drei direkt aufeinander folgenden Zuständen: Geschlossen, geöffnet, leer! Das hatte mit ausgewogener Ernährung wenig zu tun.
Also WeightWatchers mit seinem einfachen Prinzip: Je unausgewogener ein Lebensmittel, desto mehr Punkte hat es. Und du erfasst alles, was du isst. Dabei hast du ein tägliches Budget plus ein zusätzliches Wochenbudget, dass du in einer Woche flexibel einsetzen kannst. Das ist schön einfach. Wenn du am Tag in deinem Budget (plus Wochenbudget) bleibst, gibt’s in der App einen blauen Haken für den Tag. Und es ist ein gutes Gefühl, zu beobachten, wie die blauen Haken sich nebeneinander über die Woche aufreihen. Und ganz nebenbei habe ich ein Bewusstsein dafür entwickelt, welche Lebensmittel wenig oder gar keine Punkte haben und welche eher viele. Zusätzlich hat Kochen mir auf einmal wieder Spaß gemacht, auch weil die Rezepte so einfach sind. Die Routine hilft mir, mich konsequent mit meiner Ernährung auseinanderzusetzen und der Blick auf die Waage und auch in den Spiegel unterstreichen die Reihen von kleinen blauen Haken.
Am Anfang macht es mir Spaß, solche Routinen zu etablieren. Ich bin stolz auf meine Disziplin. Ich freue mich über die Erfolge, die schon darin bestehen, der Routine einfach zu folgen - Tag für Tag. Das geht allerdings soweit, dass ein Abweichen, selbst wenn es auf das eigentliche Ergebnis keinen Einfluss hat, sich für mich bereits wie Versagen anfühlen kann. Dabei kommen dann entweder so Gespräche wie heute morgen heraus oder es passieren noch ganz andere Dinge. So bin ich zum Beispiel eines Nachts nochmal aufgestanden, weil ich vergessen hatte, einen abendlichen Snack in der App zu erfassen. Über die Suche in der Datenbank konnte ich den Snack nicht finden, also ging ich tatsächlich nochmal in die Küche, fischte die Packung aus dem Wertstoffmüll, nur um den Barcode zu scannen. Es hätte gar keine Auswirkung gehabt auf mein Gewicht oder meine Ernährung, wenn ich diese drei Punkte nicht erfasst hätte. Aber es war für mich einfach falsch. Ich kann es tun, und ich kann es korrekt tun, also muss ich es auch tun!
Ein anderes Beispiel ist Sport. Auch hier nutze ich eine App, die mir zum Beispiel ein 10-Wochen-Programm bietet mit Sporteinheiten für jeden Tag von Montag bis Samstag. Ich habe diese App vor zwei Jahren schon mal genutzt mit dem gleichen Programm. Irgendwann, ich glaube nach der siebten Woche, habe ich es wegen einer Erkältung nicht geschafft, mich an den Trainingsplan zu halten. Und anstatt einfach eine Woche zu pausieren und die achte Woche des Plans einfach neun Wochen nach Start des Programms zu beginnen, habe ich das ganze Programm abgebrochen. Ich hatte es ja nicht richtig gemacht. Und das, nachdem ich bereits siebzig Prozent des Trainingsprogramms absolviert und sichtbare Ergebnisse erzielt hatte. Aber es war für mich nicht okay, einfach vom Plan abzuweichen. Das war für mich nicht akzeptabel und führte dazu, dass ich diese App fast zwei Jahre nicht mehr geöffnet habe. Ich hatte zuviel Sorge, dass ich wieder versagen könnte.
Tja, Routinen - ich brauche sie, um am Ball zu bleiben und motivationsärmere Tage zu überbrücken. Ich brauche sie, um unliebsame Gewohnheiten durch bessere zu ersetzen. Und irgendwann beginnen sie, mich einzuengen, weil ich mir selbst zu wenig Nachsicht einräume, wenn ich von ihnen abweiche. Das kann bis zur kreativen Blockade führen. So habe ich mir zum Beispiel vorgenommen, einmal pro Woche hier einen neuen Blogeintrag zu veröffentlichen. Den wollte ich gestern Vormittag vorbereiten. Doch es ging nicht. Ich war so unter Druck, etwas schreiben zu müssen, dass sich flüssig liest und authentisch und natürlich von meinen leichten Gebrauchsspuren erzählt. Ich saß fast eine Stunde in einer Opossumhaltung vor dem Laptop und bekam immer schlechtere Laune. Es fühlte sich wieder wie versagen an.
“Was passiert eigentlich, wenn du nicht jede Woche etwas veröffentlichst?” Die Worte aus dem Coaching, aus dem dieses Projekt entstanden ist, kamen mir wieder ins Gedächtnis. Und auch meine Antwort von damals: “Nichts. Es passiert nichts. Ich veröffentliche einfach später.” Ich habe mir damals vorgenommen, mich nicht verrückt zu machen, wenn ich mich nicht hundertprozentig an meinen Plan halten kann. Das Leben kann ja immer mal dazwischen kommen. Ich habe mit mir damals den Deal gemacht, es mir zu erlauben, Dinge aufzuschieben - allerdings maximal zweimal hintereinander. Für mich und meinen Perfektionismus ein fairer Kompromiss. Er erlaubt mir auf der einen Seite, nicht zu streng mit mir selbst zu sein und fordert auf der anderen Seite ausreichend Disziplin, um Dinge, die mir wichtig sind, nicht zu sehr schleifen zu lassen. Ich musste jedoch feststellen, dass es nicht immer sinnvoll ist, von diesem Deal gebrauch zu machen - beim Ausleeren des Bioabfallbehälters zum Beispiel.
Und so schreibe ich meinen Blogeintrag einen Tag später, mache die Sporteinheit vom Dienstag am Mittwoch und habe mir sogar am Donnerstag und Freitag erlaubt, mein Punktebudget zu überschreiten. Und ich hab das Bier vom Donnerstag nicht mal erfasst - mit Absicht! Ich Rebell!
Ich versuche also weiter, nicht so streng mit mir zu sein, wenn ich mal fünfe gerade sein lasse und dabei einmal, höchstens zweimal, nicht an meinem Plan festhalte. Denn am Ende sind Routinen zwar gute Diener, aber schlechte Herren.
Und wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, dann passiert doch etwas, wenn ich einen Tag später veröffentliche. Zumindest in mir. Es regt sich immer noch ein Widerstand. Ich kann ihn zwar mittlerweile überwinden, doch es ist eben nicht ganz so einfach, wie ich damals in meinem Coaching gesagt habe. Es bedarf auch heute noch einer bewussten Entscheidung und einer kurzen Anstrengung, von einem gefassten Plan abzuweichen. Und manchmal mag es mir auch nicht gelingen. Dann kommt es zu solchen Unterhaltung wie heute morgen. Allerdings kann ich jetzt mit etwas Abstand über mich und meine Marotten schmunzeln und für den Einstieg in diesen Beitrag eignet sich so eine Situation ja auch wunderbar. Der ist damit jetzt auch fertig - einen Tag später. Und passiert ist fast nichts. Nur den einen Tag schlechte Laune möchte ich mir in Zukunft gern sparen. Naja, ich kann halt nicht immer aus meiner Haut. Es wird sicher bald die Gelegenheit kommen, das wieder zu üben. Bis es mir gelingen wird.