Wo kommt das alles her?

“Was rührt dich gerade so an dieser Vorstellung?" fragt sie.
"Dieses Gefühl, irgendwo dazu zu gehören", antworte ich. "Dass niemand zurückgelassen wird."
"Wer hat gerade Angst davor, zurückgelassen zu werden?" fragt sie. "Der erwachsene Sven oder der kleine Sven?"
"Der kleine Sven", antworte ich ohne zu überlegen. Ich werde nachdenklich.
"Weißt du, wo das her kommt?" fragt sie.
Ich antworte nicht sofort.
"Wurdest du als Kind mal zurückgelassen?" fragt sie weiter.
Ich zucke mit den Schultern. Ich merke, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Irgendwas passiert gerade.
"Warst du vielleicht mal in einem Zimmer und kamst nicht heraus?" fragt sie.
Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich kann sie nicht zurückhalten.
"Hast Du geweint und geschrien, aber niemand kam?" fragt sie mit sanfter Stimme weiter.
Ich schlucke. Mein Mund wird trocken, mein Hals wird ganz eng. Meine Tränen brechen sich Bahn wie noch nie zuvor in meinem Leben. Mein Brustkorb bebt unkontrolliert, während ich laut und hemmungslos weine.

Ich sehe ein kleines Kind in einem dunklen Raum. Ich weiß, dass bin ich. Ich kann noch nicht laufen. Ich weiß nicht, wo dieses Bild herkommt. Meine kleine Hand will zur Türklinke. Ich komme noch nicht ran. Ich weine. Ich schreie. Niemand kommt. Die Tür bleibt zu. Ich bin hilflos. Das einzige, was mir bleibt, ist zu schreien. Mit ausgestreckter Hand. So laut ich kann. Niemand kommt. Mein kleiner Körper schmerzt vom Weinen. Niemand hört mich. Ich habe fürchterliche Angst. Mir bleibt nur das Schreien. Meine kleinen Lungen tun weh. Doch ich schreie weiter. Ich habe keine andere Möglichkeit. Mir wird langsam schwarz vor Augen. Ich höre mich noch schreien, während es dunkel wird. Niemand hört mich. Niemand kommt. Es ist dunkel. Niemand kommt.

Ihre Hände auf meiner Brust und meinem Kopf holen mich aus diesem Raum zurück aufs Sofa. Mein Gesicht und mein T-Shirt sind nass von den Tränen.Ich habe so hemmungslos geweint wie noch nie in meinem Erwachsenenleben. Ich bin total überrumpelt von diesen heftigen Emotionen. Von den Bildern, die ich gerade gesehen habe. Sie wirkten so real. Ob es eine wirkliche Erinnerung ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass mein hemmungsloses Weinen hier auf dem Sofa mit achtundvierzig Jahren wirklich ist. Das sind Emotionen, die sich Bahn gebrochen haben wie noch nie zuvor. Und ich spüre, dass es nur der Anfang ist. Nur die Spitze des Eisbergs. Nur das, was ich jetzt gerade ertragen kann. Ich versuche, ruhig zu atmen. Ich bin überwältigt von meinen heftigen Emotionen, die durch eine einzige Frage ausgelöst wurden: "Hast Du geweint und geschrien, aber niemand kam?"

Selbst jetzt, einen Tag später, laufen mir die Tränen wieder über das Gesicht, während ich von meinem intensiven Erlebnis gestern schreibe. Die Vorstellung, als kleines Kind in einem Raum zu sitzen, zu weinen und nach jemandem zu schreien, vielleicht bis zur Bewusstlosigkeit, berührt etwas ganz tief in mir. Ich verspüre Ohnmacht und eine wahnsinnige Hilflosigkeit. Und der Kloß im Hals und die Tränen kommen wieder.

Wie gesagt, ich weiß nicht, ob es eine wirkliche Erinnerung ist, die da aufflammte. Ich reagiere aber so heftig auf dieses Bild, wie ich noch nie zuvor auf eine Vorstellung reagiert habe. Irgendetwas ist da, tief in mir. Und meine Tränen, auch wenn sie die heftigsten waren, an die ich mich erinnern kann, waren noch nicht alles. Ich spüre ganz deutlich, dass ich noch nicht alles rauslassen konnte. Da ist noch mehr. Ich war noch nicht bereit dafür.

Irgendetwas ist in meiner frühen Kindheit geschehen, dass ich in mir vergraben habe. Tief in mir weggeschlossen, abgekapselt. Gestern hat es sich zum ersten Mal Bahn gebrochen. Ich halte es für durchaus möglich, dass ich wirklich mal in einem Zimmer saß, vielleicht auf dem Fußboden, vielleicht in meinem Bettchen. Und ich vielleicht wirklich begann zu schreien. So wie kleine Kinder es tun, wenn sie noch nicht sprechen können. Sie können ja nach niemanden rufen. Weinen und Schreien ist ihre einzige Kommunikationsmöglichkeit, wenn sie jemanden brauchen.

Und dann kommt niemand. Zu klein, um aus dem Bett oder an die Türklinke zu kommen. Was bedeutet das für ein Kind, für ein Baby? Auch evolutionär betrachtet? Es ist getrennt von der Mutter, von der Sippe, von Nahrung und Schutz. Es schreit und niemand kommt. Es kann sich nicht selbst ernähren. Es kann sich nicht alleine fortbewegen. Es ist absolut hilflos. Absolut schutzlos. Wenn niemand kommt und es aufnimmt und sich um es kümmert, wird es sterben. Das sind uralte Instinkte, vor mehr als zehntausend Jahren entwickelt und heute noch wirksam.

Woher sollen Babys auch wissen, dass in der heutigen Zeit vermutlich nach einer halben Stunde oder einer Stunde jemand ins Zimmer kommen und nach ihnen schauen wird. Dass sie in der heutigen modernen Gesellschaft gar nicht in Gefahr sind. Sie haben das in dem Alter noch nicht gelernt. In ihnen wirken die uralten Überlebensstrategien aus den Zeiten der Säbelzahntiger und Mammuts: Zurückgelassen werden heißt sterben. Ihnen bleibt nur das Weinen und Schreien. Was für Urängste müssen sich da aufbauen, wenn dann niemand kommt!

Ich weiß nicht, ob mir als kleines Kind so etwas passiert ist. Doch ich halte das für wahrscheinlich, denn warum sonst sollte ich so heftig auf eine einfache Frage reagieren? Und aus dem Nichts heraus. Ich habe auf dem Sofa gesessen und geweint und gespürt, wie irgendetwas ganz tief in mir berührt worden war. Irgendetwas in dieser Richtung werde ich erlebt haben. Und es würde auch meine heutigen Gebrauchsspuren erklären: Ich möchte dazu gehören. Ich muss die Wünsche und Bedürfnisse anderer voraussehen. Ich darf nicht zur Last fallen. Ich muss Lösungen für Probleme finden. Alles Schutzstrategien, die verhindern, dass ich zurückgelassen werde.

Und sie haben funktioniert. Wenn ich jetzt mit achtundvierzig Jahren auf mein Leben zurückblicke, kann ich sagen, dass ich nie Probleme hatte, Anschluss zu finden. Und doch war ich lange Zeit schüchtern. Wundert mich aber auch nicht. Ich musste ja erstmal verstehen, was es braucht, um von einem neuen Menschen oder einer neuen Gruppe akzeptiert zu werden. Immer schön vorsichtig und nichts machen, was zu Ablehnung führen könnte. Auf einmal passt so vieles ins Bild, ergibt Sinn. Meine Überanpassung, mein Drang nach Aufmerksamkeit, das fehlende Bewusstsein für eine eigene Identität. Und alles begann in meiner Kindheit. Mit einem Ereignis, an dass ich keine bewusste Erinnerung habe. Doch es wirkt über vierzig Jahre später so heftig, dass ich auf meinem Sofa fast zusammenbreche, nur durch eine gestellte Frage.

Auf der anderen Seite wird mir bewusst, wie großartig der kleine Sven es geschafft hat, seine Schutzstrategien zu entwickeln und sich da durch zu kämpfen. Und diese Schutzstrategien, meine heutigen Special Effects, machen mich aus: Meine Anpassungsfähigkeit macht mich erfolgreich im Berufsleben. Meine Empathie macht mich zu einem guten Freund. Meine Fürsorge zu einem verlässlichen Partner. Natürlich haben all diese Eigenschaften auch Schattenseiten, doch am Ende machen sie mich zu dem wertvollen Menschen, der ich heute bin. Und ich verstehe sie immer besser, kann mittlerweile immer öfter bewusst entscheiden, ob meine Schutzstrategien noch notwendig sind und ob ich sie anwenden möchte. Es lohnt sich, mal zu schauen, wo die eigenen Gebrauchsspuren herkommen. Und es ist ein warmes Gefühl, zu erkenne, wie stark sie einen gemacht haben. Und wie einzigartig und wertvoll.

Sven

1976er Baujahr mit leichten Gebrauchsspuren.

Ich möchte Impulse setzen, damit Menschen entspannter sein können - vor allem mit sich selbst. Ich habe selbst erlebt, wie verwunden der Weg dahin sein kann. Und wie schön das Gefühl ist, dort anzukommen.

Ansonsten produziere ich Videos, gehe Wandern, Reiten, zum FC St. Pauli und regelmäßig zur Kosmetik.

https://svenkalcher.de
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Routinen - gute Diener, schlechte Herren