Ich wollte dazugehören
"Warte", sage ich und bücke mich zu meinem Rucksack. "Ich habe noch ein anderes T-Shirt mit." Ich öffne den Rucksack und nehme das T-Shirt heraus. Das, das ich anhabe, ziehe ich über den Kopf.
"Hast du eigentlich Fotos von deinen Tattoos?" fragt sie.
"Nein", antworte ich und lege das eine T-Shirt auf den Rucksack. "Nur die, die Maurice nach den Sitzungen gemacht hat."
"Wollen wir welche machen?" fragt sie.
Ich überlege, blicke mich um. Wir stehen in einem Häuserdurchgang in der Nähe der S-Bahn-Station.
"Warum nicht", sage ich.
"Prima", antwortet sie und hebt wieder die Kamera. "Dann stell dich wieder da vor die Wand. Ein bisschen näher zu mir."
So stehe ich in diesem Häuserdurchgang mit freiem Oberkörper und versuche, mich und meine Tattoos ins rechte Licht zu rücken. Es ist ein bisschen komisch, hier in der Öffentlichkeit, in der Nähe einer S-Bahn-Station. Und gleichzeitig freue ich mich, endlich professionelle Fotos von meinen Tattoos zu bekommen. Den Tattoos, die mich jetzt schon eine Weile begleiten und einen Teil meines Lebens erzählen.
Doch auch wenn jedes Tattoo, das ich habe, mit einer persönlichen Geschichte verbunden ist, wäre es nur die halbe Wahrheit, wenn ich sagte, sie wären nur für mich. Mein erstes Tattoo hab ich mir gleich auf dem Unterarm stechen lassen. Nicht irgendwo auf dem Rücken oder der Brust, wo ich es leichter hätte verdecken können. Mir war es von Anfang an ein Bedürfnis, sie auch zu zeigen. Zu der Zeit wollte ich anecken, ein bisschen rebellieren, ein Stück aus dem angepassten Leben ausbrechen. Und habe damals gar nicht realisiert, dass ich nur die eine Anpassung gegen eine andere eintausche. Das passiert schnell, wenn mensch sich selbst noch nicht gefunden hat.
Es war vor zwölfeinhalb Jahren. Ich war im September nach einer längeren Zeit in Frankfurt und Düsseldorf in den Norden zurückgekehrt und nach Hamburg gezogen. Neuer Job, neue Wohnung, neue Stadt, zum Glück mit einem wohlvertrauten Anlaufpunkt: Das Millerntor-Stadion. Zu den ersten Spielen ging ich noch alleine, ab November nahm mich ein Kollege unter seine Fittiche und mit in seinen FC St. Pauli: Fanszene, das Jolly Roger, Punkmusik! Ich fühlte mich angekommen, aufgenommen, dazugehörig.
Meine Rückkehr in die Fanszene des FC St. Pauli nach mehr als zehn Jahren erfüllte mein zu dieser Zeit sehr stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Ich wurde in meiner kleinen aber feinen Bezugsgruppe akzeptiert, und schnell erkannten mich auch andere Menschen wieder, wenn wir nach den Heimspielen noch im Jolly Roger den Spieltag feucht-fröhlich ausklingen ließen. Damals waren die Skinheads Sankt Pauli sehr präsent dort. Mich faszinierte diese Gruppe. Ich mochte die Musik, ich mochte die Mode, mich beeindruckte ihr Auftreten. So wollte ich auch sein. Nicht der spießige angepasste Bankkaufmann, sondern einer von denen, die anders sind. Ich wollte dazugehören, auch in dieser Subkultur anerkannt werden. Und nein, Skinheads sind nicht gleich Neonazis - ich empfehle dazu den Dokumentarfilm 'Skinhead Attitude'.
Der Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung ging soweit, dass ich mir nicht nur die Haare kurz schor, sondern mir auch mein erstes Tattoo stechen ließ. Einen Totenkopf mit den Buchstaben FCSP auf der Innenseite des linken Unterarms. Ich kaufte Poloshirts und Button-Down-Hemden, Levi's und Dr. Martens. Ich fühlte mich wohl in dieser Subkultur und fand tatsächlich Anschluss, wenn auch eher am Rand der Gruppe. Das war mir egal. Ich wurde als Skinhead wahrgenommen und gehörte dazu. Ich war endlich mal jemand und ging dorthin, wo Bankkaufleute sich nicht hintrauten. So sah ich damals.
Lange Zeit war die Fanszene des FC St. Pauli und die damit verbundenen Subkulturen ein Gegenentwurf zu meinem bürgerlichen Job in der Bank. Und ich kultivierte dieses Anderssein weiter und in Teilen sehr unreflektiert. Der linke Arm wurde zu einer Liebeserklärung an diese Welt, an diesen Verein. Und auch meine Ansichten wurden stark von diesem Umfeld geprägt. Das finde ich bis heute gut, denn die Werte, die dieser Verein und seine Fans vertreten, teile ich uneingeschränkt. Allerdings war mein Bedürfnis, ja mein Drang nach Zugehörigkeit so groß, dass ich viele Meinungen unreflektiert übernommen habe. Zu groß war die Sorge, vielleicht nicht mehr akzeptiert zu werden, wenn ich mal eine andere Meinung hatte. So verachtete ich ganze Berufsgruppen, verteidigte jede Art von linken Demonstrationen und genoss die Zustimmung in dieser Parallelwelt.
Wenn ich heute auf diese Zeit zurückblicke, bin ich etwas kritischer. Ich vertrete immer noch die Werte des Vereins und seiner Fanszene, bin aber lange nicht mehr so dogmatisch unterwegs wie noch vor ein paar Jahren. Ich muss meine politische Überzeugung nicht verkürzt auf T-Shirts für jeden lesbar vor mir her tragen. Ich mag die Musik und Subkultur der Skinheads immer noch und fühle mich auf Konzerten oder Festivals dieser Szene weiterhin sehr wohl, mache mir aber die Uniformität der Kleidung und des Verhaltens nicht mehr zu eigen. Meine Haare sind wieder länger und mein Kleidungsstil individueller geworden. Und Bart trage ich auch. Ich gehe immer noch zu den Heimspielen des FC St. Pauli, muss mich heute aber nicht mehr zwingend dabei betrinken. Es kommt allerdings trotzdem mal vor und das dann auch gern. Ich habe meinen eigenen Weg gefunden.
Damals habe ich die Freiheit in dem Ausbruch aus meinem bürgerlichen Leben gesucht und in dieser Welt gefunden. Dabei habe ich nicht gemerkt, dass ich die Anpassung an die Erwartungen einer Gesellschaft nur durch die Anpassung an eine andere Art von Erwartungen getauscht habe. An die Erwartung, unangepasst zu sein in jeder Situation. Allerdings fühlte es sich deutlich besser an, die Erwartungen eines frei gewählten Umfelds zu erfüllen als die einer Gesellschaft, in die ich hinein geboren wurde. Und so sehr ich diese vermeintliche Freiheit genoss, ganz ich selbst war ich in dieser Zeit nicht. Und wirklich frei auch nicht, denn ich identifizierte mich zum großen Teil über die Akzeptanz Anderer in meinem gewählten Umfeld. Das machte mich abhängig von diesem Umfeld, hatte vielleicht schon Suchtcharakter.
Versteh mich nicht falsch. Ich mag dieses Umfeld auch heute noch und blicke voller Wärme auf diese Zeit zurück. Ich habe wahnsinnig tolle Menschen kennengelernt. Ich habe für mich sehr wertvolle Erfahrungen gemacht, die ich nur in dieser Zeit in diesem Umfeld machen konnte. Ich möchte diese Zeit nicht missen. Sie war so wichtig für meine Entwicklung. Genauso wichtig war der Schritt, mich nicht mehr über die Akzeptanz Anderer oder die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Umfeld zu definieren. Heute schaue ich auf meine Werte und meine Bedürfnisse im Umgang mit anderen Menschen und vor allem im Umgang mit mir selbst. Ich muss niemanden mehr überzeugen, niemanden mehr bekehren. Ich finde Freude an unterschiedlichen Perspektiven und versuche sie zu verstehen. Unterschiedliche Ansichten zu akzeptieren und auch aushalten zu können, empfinde ich als wahnsinnig bereichernd. Es hat meinen Horizont in den letzten Monaten so enorm erweitert. Für diese Erfahrung bin ich wirklich dankbar.
Und so blicke ich entspannt und mit einem Lächeln auf die Tattoos auf meinem linken Arm. Und auf all die anderen Tattoos, die seither dazu gekommen sind. Sie erzählen immer weniger von der Zugehörigkeit zu einer Subkultur und immer mehr von mir. Sind sind individueller geworden und das eine oder andere auch komplexer in seiner Bedeutung. Genau wie die Erfahrungen in meinem Leben möchte ich auch keines meiner Tattoos missen, die mich an sie erinnern. Ich freue mich schon auf die, die noch dazu kommen werden und von weiteren Erfahrungen und Entwicklungen erzählen werden. Und vielleicht fühlt es sich dann auch natürlicher an, wenn Gianna auch diese fotografiert - mitten in der Öffentlichkeit in der Nähe einer S-Bahn-Station.