Ich habe mich geschämt
"Hm", macht sie und schaut aufs Smartphone.
"Was?" frage ich.
"Ich lese gerade deinen letzten Blogeintrag", antwortet sie.
"Und?" frage ich.
Sie schaut hoch und legt das Smartphone zur Seite. "Mir fehlt irgendwie Tiefe."
"Was meinst du?" frage ich.
"Du beschreibst was passiert ist und warum, aber nicht, wie es dir damals ging. Wie sich das für dich anfühlte. Du bleibst an der Oberfläche."
"Hast du ein Beispiel?" frage ich.
"Du schreibst, dass du Berufsgruppen - wie hast du das gleich noch ausgedrückt - verachtet hast. Welche Berufsgruppen? Und warum? Was hat das für dich bedeutet?"
Ich verstehe, was sie meint.
Ich habe mir anschließend den Beitrag nochmal durchgelesen. Es stimmt. Unter die Oberfläche habe ich dich nicht schauen lassen. Denn ein bisschen schäme ich mich dafür, wie unreflektiert ich damals Meinungen und Verhaltensweisen übernommen habe. Ich habe diese Ansichten vehement verteidigt und dabei oft Streit vom Zaun gebrochen, obwohl sie zum Teil gegen mein eigenes Wertekonstrukt verstießen. Einfach aus dem Drang, dazuzugehören. Diese Zeit war geprägt von Fußball, Oi! und Alkohol - und einem für mich toxischen Rollenbild.
"No one likes us! No one likes us! No one likes us! We don't care!" Gebrüllt von dutzenden tätowierten Kurzhaarigen, die Biergläser in die Höhe reckten und sich mit nacktem Oberkörper auf der Tanzfläche des Jolly Roger drängten. Und ich mittendrin. So laut ich konnte. Mit diesem Statement war jede Notwendigkeit der Anpassung an ein bürgerliches Leben für mich damals vom Tisch gewischt. Ihr mögt uns nicht. Das ist uns scheißegal! Ich fühlte mich frei und aufgehoben in dieser Runde. So lange ich laut brüllen, stabil Pogo tanzen und viel Bier trinken konnte, gehörte ich dazu, war willkommen. Für mich damals ein sehr warmes Gefühl.
Ich tat viel dafür, in diese Szene zu passen. Ich änderte meinen Kleidungsstil: Hochgekrempelte Levi's 501 über 8-Loch Dr. Martens, kurzärmelige karierte Button-Down-Hemden unter schmalen Hosenträgern. Und immer mit den Unterarmen voraus auf die Tanzfläche wenn der nächste Punk- oder Oi!-Song lief. Die Arme nach oben gerissen und anderen den Text ins Gesicht gebrüllt: "Wir - sind alle individuell. Ein bisschen schwul, ein bisschen kriminell. Ein bisschen dies, ein bisschen das. Ein paar aufs Maul. Und jede Menge Spaß!" Damals konnten sie mich alle mal gern haben im Büro. Mit ihren wichtigen Projektplänen und Deadlines. Mit ihren Monatsergebnissen und Zielerreichungen. Hier würden sie sich nicht her trauen. Hier hätten sie Angst, diese zahnlosen Papiertiger mit den schicken Hosen. Hier konnten sie mir gar nichts!
Diese Welt voller Gleichgesinnter wurde an fast jedem Wochenende mein Zuhause. Ich lernte Menschen kennen, trank Bier, feierte Nächte durch und hatte eine gute Zeit. Die Türsteher kannten mich und Stammgäste nickten mir zur Begrüßung zu. Hier fühlte ich mich aufgehoben, so wie ich war. Ich sagte damals immer, dass Peter Alexanders 'Kleine Kneipe' für mich zum Jolly Roger passt wie die Faust aufs Auge: "Wo keiner fragt, was du hast, wer du bist." An diesem Ort war die Welt für mich sorgenfrei und in Ordnung, solange das Bier schmeckte und die Musik laut war. Ich war angekommen.
Ich identifizierte mich darüber, Skinhead zu sein. Über den Kleidungsstil, über die Musik, über die Attitüde. Und damit auch über die Abneigung gegen die Staatsgewalt. Ich hörte die Geschichten vom Angriff auf das Jolly Roger und machte auch meine eigenen Erfahrungen mit behelmten Polizisten rund um Fußballspiele. Und diese dienten selten dazu, meine Abneigung zu lindern. Ich hatte Scheuklappen auf, sah nur das, was ich sehen wollte und was in das Bild meiner damaligen Welt passte. Meine Verachtung ging soweit, dass ich nicht mal Streifenwagen in meinem beschaulichen Stadtteil umkommentiert an mir vorbeifahren lassen konnte. Und die Kommentare waren alles andere als freundlich. Für mich fühlte sich das damals richtig an. Polizisten sind kein Freund und kein Helfer. Das war damals meine Wahrheit. Und ich machte keinen Hehl daraus: Niemand muss Bulle sein!
Doch dann lernte ich ausgerechnet beim Fußball Menschen kennen, die meine kleine heile neue Welt ins Wanken brachten: Nette Polizisten. Ich wusste recht früh von ihrem Beruf, und mir wurde versichert, dass sie zu den 'guten Bullen' gehörten. Das bestätigte sich dann auch recht schnell. Mit ihnen konnte ich genauso feiern wie mit den Skinheads im Jolly Roger. Aus diesen Begegnungen entstanden über die Zeit wunderbare Freundschaften mit vielen wertvollen Momenten. Diese Menschen mochten mich trotz meiner Skinhead-Attitüde. Und ich mochte sie trotz ihres Berufs. Ich versuchte, das beides unter einen Hut zu bekommen: Die in der Szene vorherrschende Meinung über diese Berufsgruppe und meine persönliche Erfahrungen mit diesen liebenswerten Menschen. Für mich waren sie einfach die Ausnahme von der Regel und alle anderen Polizisten weiterhin mindestens mal unsympathisch.
Doch egal wie laut ich im Jolly Roger beim Song "Bier gegen Bullen" mitbrüllte, egal wie viele blaue Flecken ich mir beim Pogo zu "Bullenwagen klau'n" holte, das Gefühl, dabei Freunde zu verraten, war immer dabei. Ich merkte auf einmal, dass nicht alles in dem Umfeld, das mir so viel Halt und so ein großes Gefühl der Zugehörigkeit gegeben hatte, mit meinem Wertekonstrukt überein stimmte. "Wo keiner fragt, was du hast, wer du bist." galt eben nicht für Polizisten. Das fühlte sich nicht richtig an. Wie kann ich jemanden Freund nennen, und dann Songtexte mitsingen, die Gewalt gegen diesen Menschen feiern?
Ich tat das, weil ich Angst hatte, ausgestoßen zu werden aus einer Szene, die mir seit langer Zeit ein Gefühl von wirklicher Zugehörigkeit gab. Und die mich faszinierte mit ihrer rebellischen Attitüde. Und so habe alles verborgen, was nicht in diese Welt passte: meinen Job in der Bank, der so gar nicht Working Class ist. Meine Freundschaften zu tollen Menschen, nur weil ihr Beruf in der Szene nicht sonderlich beliebt ist. Meine Vorliebe für so bekannte Hooliganfilme wie Dirty Dancing oder Titanic. Oder kurz: All das was zu mir gehört. Und alles aus Angst, abgelehnt zu werden, wenn ich nicht einem bestimmten Bild entspreche. Toxischer geht's kaum.
Ich merke gerade, wie schwer es für mich ist, das heute hier so aufzuschreiben. Es ist mittlerweile der dritte Versuch, diesen Beitrag rund zu bekommen. Kein Wunder, dass ich im letzten Artikel so an der Oberfläche geblieben bin. Ich schäme mich für mein Verhalten von damals. Es verstößt so hart gegen mein Bedürfnis von Integrität und Gerechtigkeit, dass ich mich gerade so klein mit Hut fühle. Gleichzeitig befreit es mich, es einmal so aufzuschreiben. Mich einmal hinzustellen und zu sagen: "Ja, das habe ich getan. Und ja, das war scheiße!" Und es mir zu erlauben, mir zu verzeihen. Und alle meine Seiten zu akzeptieren.