Wenn auf A nicht B folgt

"Findest du das nicht etwas übergriffig?" fragt sie.
"Wenn ich 'naturell' benutze?" frage ich zurück.
"Ja", antwortet sie.
"Ich benutze es ja nicht, um mich über ihn lustig zu machen", entgegne ich. "Ich benutze es, weil es wirklich zu einem Anker für mich geworden ist."
"Dann solltest du ihm das vielleicht mal sagen", schlägt sie vor. "Nicht, dass er es in den falschen Hals bekommt, wenn es dir in seiner Gegenwart mal rausrutscht."
"Ja, das ist wohl eine gute Idee", sage ich. "Ich möchte ihm ja nicht auf die Füße treten oder respektlos sein. Ganz im Gegenteil."
"Dann sag ihm das so!" wiederholt sie und lächelt.

Mein Chef ist Portugiese und hat vor einigen Monaten damit begonnen, in den meisten Meetings Deutsch statt Englisch zu sprechen, und das richtig schnell richtig gut. Nur manchmal fallen ihm die deutschen Begriffe nicht direkt ein und er greift auf die Englischen zurück und spricht sie deutsch aus. So wird aus dem englischen 'natural' dann 'naturell', wenn er natürlich meint. Und er lässt Dinge sich sehr häufig natürlich, also 'naturell' entwickeln. Das beeindruckt mich nachhaltig.

Für mich ist das nämlich eine eher unnatürliche Herangehensweise, nicht nur im professionellen Umfeld. Dingen ihren Lauf zu lassen, macht mich nervös. Was ist, wenn es anders kommt, als ich es gerne hätte? Hätte ich nicht doch etwas tun können, ja vielleicht sogar müssen? Ich wünschte mir eigentlich immer schon eine Gebrauchsanleitung fürs Leben: Ich muss A machen damit B passiert. Und wenn ich A mache, wird B auch passieren. Ich brauchte diese Planbarkeit. Sie gab mir Sicherheit, das Gefühl, Dinge kontrollieren zu können. Eine Illusion, ich weiß.

Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Gedanken ich mir gemacht habe, was dieses A sein könnte, dass unweigerlich zu B führt. Und wie verklärt ich B gesehen habe. Nehmen wir mal das Beispiel Beziehungen - fängt ja passender Weise mit B an. Meine Gebrauchsanleitung für Beziehungen stammt aus den Teenie-Rom-Coms der Achziger und frühen Neunziger wie 'Pretty in Pink', 'Dirty Dancing', 'La Boum' oder 'The Breakfast Club': Du tust alles für deinen Schwarm, machst dich vielleicht öffentlich ganz romantisch zum Lauch, nur um zu zeigen, wie sehr du sie liebst.

Und auch, wenn ich diese Gebrauchsanleitung nicht eins zu eins übernommen habe, wirkte die Idee, eine glückliche Beziehung sei die logische Konsequenz, wenn ich nur bieten könnte, was meine Partnerin erwartete und brauchte, sehr tief und nachhaltig in mir. Sei nützlich und tue Dinge, die sie beeindrucken, dann wird es schon funktionieren. Daran habe ich lange geglaubt, danach gehandelt und mich nicht nur einmal dabei selbst verloren. Und du magst es schon ahnen: Weder haben mich diese Beziehungen auf Dauer glücklich gemacht noch haben sie gehalten. Tja, da hatte ich bisher wohl die Gebrauchsanleitung einfach noch nicht richtig befolgt.

Und dann stellte jemand meine Welt auf den Kopf und nahm einfach das B aus meiner logischen Auf-A-folgt-zwangsläufig-B-Anleitung. Ich kam einem Menschen näher, der eine klassische romantische Paarbeziehung von vornherein ausschloss. Einfach so. Das bekannte Ziel B war vom Tisch und ersetzt durch ein X, von dem ich nicht so genau wusste, was es sein würde und ob ich es wollte. Was ich aber auf gar keinen Fall wollte, war mich später zu fragen, was aus diesem X hätte werden können, nur weil ich lieber ein B wollte. Und so blieb mir nur, mich darauf ein und den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Nicht gerade meine größte Stärke.

Es hat mich ganz schön Kraft und Überwindung gekostet, mich von einem zu erreichenden Ziel zu lösen. Egal ob B oder X. Nur immer den nächsten Schritt zu gehen und zu schauen, wie er sich anfühlt, fiel mir unfassbar schwer. Vor allem, weil aus meiner Sicht alles da war, was es für eine glückliche Beziehung braucht. Es ist ein bisschen so, als lägen alle Zutaten für dein Lieblingsessen vor dir ausgebreitet bereit, aber du musst daraus jetzt etwas anderes kochen. Und das ohne Rezept und Hilfe.

Das war eine anstrengende Zeit für mich. Nicht auf ein Konstrukt hinzuarbeiten, mit dem ich bisher immer Sicherheit und Konstanz verbunden habe, und dafür darauf zu vertrauen, dass sich ganz natürlich das entwickeln wird, mit dem wir beide cool und für den jeweiligen Moment glücklich sind, das widerstrebte allen meinen bisherigen Verhaltensmustern. Mein Kopf verstand ihre Beweggründe dahinter. Ihren Wunsch nach Autonomie und Unabhängigkeit, ohne dabei auf Nähe und Zweisamkeit verzichten zu müssen. Sie brauchte eine völlig freiwillige Verbindung, die nicht auf den Erwartungen an eine Rolle basierte. Und mir machte diese Freiwilligkeit Angst. Ich wollte Sicherheit, das Gefühl zumindest irgendetwas kontrollieren zu können. Doch das gab es nicht. Wie also lässt mensch Dingen ihren Lauf und löst sich von der konkreten Vorstellung einer Zukunft?

Was heute für mich total natürlich klingt, geschah damals eher mit dem Mut der Verzweiflung: Ich habe ihr gesagt, was mir wichtig ist und wie ich es mir zwischen uns wünsche, und das trotz der Befürchtung, dass es sie verschrecken könnte. Ich wollte damit nichts Bestimmtes erreichen. Ich wollte nur, dass sie wusste, wie es in mir aussah. Einfach sagen: "Hier stehe ich. Wo stehst du?" Und dann schauen was passiert.

Und wir haben geschaut. Hingeschaut. Auf uns geschaut. Ist jeder von uns cool damit, was wir tun? Wie fühlt es sich für mich an? Wie für den anderen? Ich musste dabei höllisch aufpassen, nicht wieder ein konkretes Ziel zu verfolgen, sondern einfach einen Schritt nach dem anderen zu tun und zu schauen, wo mich die Füße hintragen. Wenn ich dir jetzt sage, dass es mit jedem Schritt leichter wurde, den Weg zu genießen, klingt es zwar schön, ist aber nur die halbe Wahrheit.

Der Weg erforderte vor allem viel Mut, bekannte Muster hinter sich zu lassen. Er erforderte großes Vertrauen, nicht nur in den anderen Menschen, sondern vor allem in das eigene Bauchgefühl. Mehr als einmal habe ich hart damit zu kämpfen gehabt, dass obwohl alles vorhanden war, was zu A gehörte, das für mich dazugehörige B nicht passierte. Dann kamen Zweifel auf, ob ich mir vielleicht etwas vormachte. Ob ich mich vielleicht mit weniger zufrieden gab, als ich brauchte - mal wieder. Was auf diesem Weg half, waren immer wiederkehrende Standortbestimmungen. Wir haben viel geredet, sehr offen geredet. Haben uns der Angst vor Zurückweisung gestellt. Haben immer wieder geschaut, wie wir die Zeit miteinander gestalten und ob es uns erfüllt, anstatt wie wir sie nennen. Es hat mir geholfen, das zu betrachten und wertzuschätzen, was ist, nicht was sein könnte oder wie anderer das bewerten könnten. Das war kein einfacher Weg für jemanden mit meinen Gebrauchsspuren. Doch er lohnte sich.

Was am Ende dieses Weges kommt, weiß ich nicht. Denn er ist noch nicht zu Ende. Nach außen machen wir heute sicher den Eindruck einer klassischen romantischen Paarbeziehung. Wir können mittlerweile auch sagen, wir sind zusammen. Genau genommen fehlen uns aber die Worte, die ausdrücken, was sich durch diesen Weg zwischen uns entwickelt hat. Es ist kein klassisches gesellschaftliches Konstrukt. Es ist eher ein Zustand. Ein Gefühl der Verbundenheit. Fellowship of Lives hat sie es erst gestern genannt, als wir mal wieder darüber sprachen, was wir gerade gemeinsam gestalten.

Ich finde, das trifft es wunderbar. Ich fühle mich frei und verbunden zur gleichen Zeit. Ich denke kaum noch daran, was ich tun oder vermeiden muss, damit es funktioniert. Und ich mache mir absolut keine Gedanken darüber, wie lange die Beziehung wohl halten wird. Es ist unwichtig geworden. Sie ist gut und erfüllend in diesem Augenblick. Und wenn sich etwas ändert, schauen wir uns das an und reagieren darauf. Es braucht für mich kein A mehr, damit B daraus entsteht. Es braucht nur ein Gefühl dafür, ob es sich gerade natürlich anfühlt. Dann ist es egal, ob es B ist oder X oder irgendetwas anderes. Wenn es sich natürlich anfühlt, ist es gut.

Und diese Erfahrung wirkt mittlerweile in allen Lebensbereichen: Wenn ich meine wichtigsten Bedürfnisse und Werte kenne und den Mut aufbringe, nach ihnen zu handeln, dann kann ich auch in schwierigen Momenten sagen: "Es gibt gerade nichts mehr, was ich noch tun kann oder tun möchte, um die Situation zu verändern." Dann fällt es mir leichter, Dingen ihren natürlich Lauf zu lassen und dabei neugierig auf das zu sein, was sich daraus ergeben mag. Ich empfinde das als entspannend. Deshalb habe ich 'naturell' als Anker lieb gewonnen, der mich an dieses Gefühl erinnert, wenn mein Kopf wieder mal nach einer Anleitung für das Leben kramt.

Sven

1976er Baujahr mit leichten Gebrauchsspuren.

Ich möchte Impulse setzen, damit Menschen entspannter sein können - vor allem mit sich selbst. Ich habe selbst erlebt, wie verwunden der Weg dahin sein kann. Und wie schön das Gefühl ist, dort anzukommen.

Ansonsten produziere ich Videos, gehe Wandern, Reiten, zum FC St. Pauli und regelmäßig zur Kosmetik.

https://svenkalcher.de
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Wenn das innere Kind keine Ruhe gibt

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Ich habe mich geschämt